Sind die Streuobstwiesen noch zu retten?

Seit 1950 nahm in Deutschland die Streuobstfläche um etwa 75 % ab. Fachleute schätzen, dass es noch zwischen 300.000 und 500.000 ha Streuobstbau gibt. Genauere Angaben fehlen! Baden-Württemberg ist immer noch das Kernland des Streuobstbaus. Fast jeder zweite in Deutschland gegessene und auch gepresste Apfel wächst hier. Dabei ist aber insbesondere beim Tafelobst, aber auch beim Saft nicht der Streuobstbau, sondern der Niederstammanbau maßgebend. Denn mit 30 % der deutschen Gesamtanbaufläche ist Baden-Württemberg auch hier führend. Der Hochstammanbau nahm dagegen auch in Baden-Württemberg stark ab, seit 1934 um 70 %, davon allein zwischen 1965 und 1990 um 40 %. Wie die 1990 noch vorhandenen 11,4 Millionen Bäume auf 180.000 ha weiter abnahmen, ist nicht bekannt.
Seitens der Landesregierung ist eine Bestandsaufnahme nicht geplant (Landtag 2004), es wurde jedoch 2006 von nur noch 160.000 ha ausgegangen. Auch Regionen, wie beispielsweise 2005 der Landkreis Esslingen, lehnen eine Erhebung der Kosten wegen ab und verweisen auf die Gemeinden. Die Landeshauptstadt Stuttgart hat laut ihrem Streuobstwiesen-Faltblatt von 2004 noch etwa 170 ha typische Streuobstwiesen. Doch wie lange dies noch zutrifft, ist eine Frage der Zeit. Denn selbst in Naturschutzgebieten gehen Streuobstwiesen mangels Pflege (Foto Dr. M. Frisch) und Überalterung verloren, und auch Krankheiten wie Feuerbrand, Spitzendürre und Birnenverfall fordern ihren Tribut. Übrigens, die Heidäcker in Plieningen sind mit 34 ha Stuttgarts größtes zusammenhängendes Streuobstgebiet.
Um dem Verlust der für den Naturschutz und das Landschaftsbild wertvollen Streuobstwiesen zu begegnen, wurde bereits Mitte der 80er Jahre der Naturschutzbund Deutschland (NABU) aktiv. Sogenannte Streuobstinitiativen wurden gegründet, die mit allen denkbaren Mitteln modernen Marketings versuchen, den Streuobstbau zu erhalten. Inzwischen fand der NABU bei anderen Verbänden Unterstützung. In Deutschland gibt es heute etwa 120 Streuobstinitiativen, davon arbeitet die Hälfte in Baden-Württemberg wie beispielsweise "Schneewittchen" im Bezirk Calw-Enzkreis-Freudenstadt, "Grünspecht" in der Region Frankenhöhe und lokal seit 1990 mit einer Kelterei der "Stuttgarter Apfelsaft". Das wichtigste Instrument der Initiativen zur Erhaltung des Streuobstbaus ist die Aufpreisvermarktung, an der sich in Baden-Württemberg durch die Übernahme einiger Kosten auch das Land beteiligt. Unter Aufpreisvermarktung versteht man den Ankauf von Äpfeln von Streuobstwiesen nicht zum Marktpreis, sondern zu einem annähernd kostendeckenden Preis. Dafür muss der Erzeuger der Äpfel ganz bestimmte, kontrollierte Bedingungen erfüllen, um die Bezeichnung "aus Streuobst" zu rechtfertigen. Die Mehrkosten des Aufpreises werden mit 10 - 15 Cent pro Literflasche dem Verbraucher in Rechnung gestellt. So ist es der Verbraucher, der durch diese Mehrleistung den Streuobstbau fördert und damit Streuobstwiesen erhält. Allerdings macht in Deutschland in Abhängigkeit vom jährlich stark schwankenden Ernteaufkommen die im Rahmen der Aufpreisvermarktung erzeugte Streuobstgetränkemenge gerade einmal 0,6 - 1 % des Apfelsaftmarkts aus. Mehr als die Hälfte des Apfelsaftmarkts wird vom importierten Apfelsaftkonzentrat beherrscht.
Ferner besitzen in Baden-Württemberg, wo 80 % der etwa 30.000 deutschen Kleinbrenner wohnen, auch der Apfel- und Birnenbrand noch Bedeutung. Erst jüngst begannen sich die Streuobstinitiativen zusammenzuschließen. Im November 2006 fand in Hohenheim der erste landesweite Streuobsttag statt und im März 2007 in Fulda die erste Internationale Streuobstkonferenz mit Vertretern Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und Englands. Beide Treffen dienten der Orientierung über die schwierige Lage.
So erfreulich die vielseitigen Bemühungen um die Erhaltung der Streuobstwiesen inzwischen sind, so ernsthaft stellt sich die Frage, ob die Aktivitäten vielerorts nicht zu spät kommen, um Streuobstwiesen noch flächig retten zu können. Denn wegen der mangelnden Wirtschaftlichkeit wäre zu deren Erhaltung eine langfristige Förderung unabdingbar. Welcher Geldgeber aber wollte die Subventionierung einer ständig zu pflegenden Dauerkultur mit einer Standzeit bei Apfel von über 80 und bei Birne von über 120 Jahren garantieren? So sieht die Bundesregierung die neuerdings mit EU-Geldern mögliche Förderung des Obstbaus derzeit nur für den kontrolliert-integrierten Obstbau und den Obstbau nach EU-Bio-Verordnung in Niederstammanlagen vor, und die Länderregierungen halten sich zurück. In den Gemeinden wird entgegen anderslautenden Beteuerungen dem Bauland und der Förderung anderer Vorhaben immer ein höherer Rang eingeräumt als dem Streuobstbau. In der Broschüre Streuobstwiesen der Stadt Stuttgart von 2004 steht: "Bauvorhaben in Bereichen von Streuobstwiesen sollen grundsätzlich vermieden werden." Gerade einmal kümmerliche etwa 170 ha sind übrig geblieben. Und die nehmen allerorts stückchenweise weiter ab, für Plieningen siehe Köpfert, Schießhausäcker und die geplante Friedhofserweiterung.

Prof. Dr. Dr. hc A. M. Steiner